Klaus Christian Kasper – Flucht!

zur Verfügung gestellt aus Anlass des Volkstrauertages am 13.11.2016

Klaus Christian Kasper; Jahrgang 1931, ältester Sohn des Kaufmanns Christian Kasper. Aufgewachsen in Lauban i/Schlesien, einer Kleinstadt, die jetzt als Folge des Zweiten Weitkrieges zu Polen gehört, rund 25 Kilometer von Görlitz entfernt, der östlichsten Stadt der heutigen Bundesrepublik.

Zweiter Weitkrieg – 6. Kriegsiahr: Schicksalstag 13. Februar 1945: Flucht!

Am 12. Januar 1945 brach an der Weichsel die sowjetische Großoffensive los. In kürzester Zeit erreichte die Rote Armee die Oder. Schlesien, jahrelang als Luftschutzkeller Deutschlands angesehen, wurde zum Kriegsschauplatz.

Irgendwann Anfang 1945 hörte die Schule auf. Einige kamen zum „Schanzen” – ich tat als 14-Jähriger Dienst bei der Post im Telegraphenamt, mal am Ticker Streifen schneiden und aufkleben, mal im Telegramm-Zustelldienst. Je näher die Front rückte, je mehr Flüchtlinge durch Lauban strömten, desto mehr schien der Telegrammverkehr zuzunehmen. Ängste machten sich breit. Am 13. Februar 1945 trug ich wiederum Telegramme aus. Zwischendruch erreichte mich die Aufforderung zur sofortigen Rückkehr. Das Verlassen Laubans war angeordnet worden.

Vor unserem Haus am Steinberg stand bereits ein pferdebespannter Ackerwagen, etwas mit Stroh „gepolstert“, eine Plane darüber. In dem Wagen kamen Mutter und meine drei Schwestern, sowie Tante Lilo (Schwägerin von Mutter) mit ihren Kindern und ihrer Haushaltshilfe unter. Hintenan band ich einen kleinen Leiterwagen. Unser Fluchtgepäck war kaum mehr, als wir schleppen konnten.

Es herrschte nasskaltes Winterwetter. Es dämmerte schon, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Wir fuhren durch den Hohwald in Richtung Westen. Ich lief neben dem hoch bepackten Leiterwagen her. Bei einem Bremsmanöver geriet die Deichsel in das Rad des Ackerwagens und brach. Ich konnte das Gefährt kaum noch steuern. Ich fror, und uns allen war elend zumute. Es war inzwischen Nacht. Später begann sich im Westen der Himmel rot zu färben. Irgendwer sprach von einem großen Brand. Ein anderer von Bombenangriffen. Wo?

Irgendwann in den Vormittagsstunden des anderen Tages erreichten wir Ostritz an der Neiße. Wir machten Rast. Soldaten einer Pioniereinheit reparierten mir die zerbrochene Deichsel. Auf dem Pflaster entdeckte ich ein Stück verkohltes Papier. Mühsam konnte ich die Reste einer Firmenbezeichnung entziffern „…HANDLUNG, DRESDEN“. Mehr als 80 km vom Feuersturm verweht. (Erst später sollten wir von dem ganzen Ausmaß der Katastrophe von Dresden erfahren, auch dass dabei Laubaner Flüchtlinge ums Leben kamen.)

Hinter uns lag die Nacht, in der Dresden unterging, und in der Lauban in Schlesien zur Heimat in der Fremde wurde. Unsere Flucht endete nach einem kurzen Aufenthalt im nahen Marienthal zunächst in Barleben bei Magdeburg; den von der NS-Partei angeordneten Zug in Richtung Sudeteniand ließen wir außer acht.

Meine Mutter und meine Tante gingen davon aus, dass an eine Rückkehr nach Schlesien nicht mehr zu denken war, dass auch eine Flucht ins damalige Sudetenland nicht gut enden würde. Der Glaube an einen „Endsieg” war schon lange nicht mehr vorhanden.

1945: Aschermittwoch – Flucht ins Ungewisse

Dieser Abschnitt zeigt, wie unterschiedlich innerhalb einer Familie die Flucht verlief.

Einen Tag später als wir, am Aschermittwoch dem 14. Februar 1945, trat Tante Trudel (jüngere Schwester von Mutter) mit ihren fünf Kindern zusammen mit Oma Kasper die Flucht aus Lauban an. Die NS-Parteiorganisationen gaben die Richtung vor: ins Sudetenland. Der Weg führte zunächst über Schönberg, Großhennersdorf und Oberoderwitz nach Georgswalde in den Sudeten, dann weiter in Richtung Böhmisch-Kamnitz. Dort gab es einen längeren Zwischenaufenthalt.

Die Flucht ging weiter über Tetschen, Aussig, Teplitz, Dux, Ober-Leutersdorf, Brüx, Komotau und Kaaden nach Radomitz, das am 5. März erreicht wurde. Dort wurde dann im Mai das Kriegsende erlebt. Die Flüchtlinge wurden jetzt auf umliegende Orte verteilt. Tante Trudel und Kinder, sowie Oma Kasper kamen nach Wilken.

Nach Kriegsende verschlechterte sich die Situation der Deutschen in der Tschechoslowakei zunehmend. Im Juli 1945 erfolgte die lnternierung in einem Flüchtlingslager in Kaaden. Die schlechte Versorgungslage führte aber bald wieder zum Rücktransport nach Wilken.

Anfang Oktober 1945 versuchte Tante Trudel Kontakt mit Mutter aufzunehmen. Sie wollte herauszufinden, ab wir und Tante Lilo noch in Barleben bei Magdaburg seien.

Knapp zwei Wochen, nachdem sie den Brief abgeschickt hatte und auf Antwort wartete, erkrankte sie an Diphterie und starb am 17. Oktober 1945. Tante Trudel wurde in Radomitz beerdigt. Ihre fünf Kinder und Oma Kasper blieben zusammen in Wilken bis zur Ausweisung in die Sowjetische Besatzungszone nach Döllstädt in der Nähe von Gotha im Mai 1946.

1946: Aufbruch in den Westen

ln Barleben bei Magdeburg, unserem vorläufigen Endpunkt der Flucht aus Schlesien, erlebten wir den Einmarsch der US-Army, dann das Kriegsende und schließlich die Weitergabe des dortigen Gebietes erst an die Briten, dann an die sowjetische Besatzungsmacht.

Einige Wochen nach Kriegsschluss stieß auch Vater wieder zu uns. Er hatte bis zum Ende als Dienstverpflichteter in Lauban ausharren müssen. ln Barleben nahm er dann eine Arbeit in einem nahen Chemiewerk an.

Ich betätigte mich zunächst in der Landwirtschaft mit den unterschiedlichsten Arbeiten, konnte aber dann auch die Schule auf dem Otto-von-Guericke-Gynmesium in Magdeburg-Neustadt fortsetzen. Nebenher produzierten wir in kleinem Umfang Tuschefarben für Kinder.

In Barleben erlebten wir auch die Vertreibung des Gutsherren mit seiner Familie durch die Kommunisten, nachdem ich schon vorher mit ansehen musste, wie von den örtlichen Parteifunktionären eine Waggonladung Farben, die uns der Grundstock einer neuen Existenz sein sollten, einfach beschlagnahmt wurden. Wir erlebten die Gründung der SED und damit die Errichtung einer neuen Parteidiktatur.

In der zweiten Jahreshälfte 10946 kamen dann die Eltern zum Entschluss, unsere wenigen Sachen noch einmal zusammenzupacken und nach dem Westen aufzubrechen.

Nach mehrfachem Anlauf und damit verbundenen Schwierigkeiten gelang uns die Flucht aus der sowjetischen in die britische Besatzungszone. Wir wurden in das Notaufnahmelager Glüsingen-Hahnenberg bei Wittingen gebracht. Erst sah es so aus, als müssten wir mit einer Zuweisung nach Ostfriesland einverstanden sein, dann aber war es doch möglich, einen Zuzug ins Rheinland zu bewirken. Jedenfalls waren wir nun im Westen!

1946: In der neuen Heimat

Nach einem weiteren Zwischenaufenthalt im Lager Wipperfürth erhielten wir schließlich für Beuel am Rhein eine Zuzugsgenehmigung. Wir kamen in eine vom Bombenkrieg schwer gezeichnete Stadt. Unübersehhar war die große Zahl der zerstörten Häuser. Die Rheinbrücke lag im Wasser, da und dort stieß man noch auf allerlei Kriegsgerät – deutsches wie alliiertes -, und in den Gärten und Ruinen fand sich noch so mancher Blindgänger.

Einige Wachen war unsere Unterkunft der gnoße Luftschutz-Hochbunker an der Goethestraße. Weihnachten wurden wir vier Kinder (der jüngste Bruder Christian war noch nicht geboren) auf verschiedene Gastfamilien aulgeleilt. Dann erhielten wir eine Mansardenwohnung in der Nähe des Bunkers: drei Zimmer, ein Waschbecken auf dem Flur. Die Suche nach Heizmaterial gehörte zum Tagesgeschäft.

Der Blick richtete sich nun nach vom. Vater versuchte mit einem Teilhaher im nahen Hennef einen Betrieb zur Fertigung von Pastellkreiden und Tuschfarben aufzubauen. Das Vorhaben scheiterte jedoch.

Weitere Versuche, wieder zu einer selbständigen Existenz zu kommen, scheiterten aus Mangel an Kapital und führten schließlich 1967 zum Freitod des Vaters.

Eines Tages hatten wir sogar das Glück, Empfänger eines CARE-Paketes zu werden. Ich konnte inzwischen wieder an die Fortsetzung der Schule denken und ging zum privaten Ernst-Kalkuhl-Gymnasium in Oberkassel. Da die Schulgebäude noch als DP-Lager beschlagnahmt waren, fand der Unterricht in anderen Räumen statt, so auch in dem herrschaftlichen Lippe’schen Palais mit Aussicht auf den Park!

Allmählich kamen wir etwas zur Ruhe und fingen an, uns mit unserer neuen Heimat vertraut zu machen. Erste Freundschaften entstanden, erste Wurzeln fassten wieder festen Grund …

1961 heiratete ich Marianne Sülzen, die ältere Tochter des Buchdruckers Engelbert Sülzen aus Oberkassel. Zunächst wohnten wir in der Nähe meiner damaligen Arbeitsstelle in Bonn-Poppelsdorf. 1985 zogen wir dann endgültig mit unseren beiden Töchtern nach Oberkassel.