Carl Härle (1879-1950)

Generaldirektor und Kunstsammler

Regina Härle

Carl Härle wurde am 26. August 1879 als Sohn eines Brauereibesitzers in Königseggwald/Württemberg geboren. Er wuchs auf mit neun Geschwistern, geprägt von dem Zusammenhalt einer tief im Glauben verwurzelten Großfamilie und der Stille und Weite der oberschwäbischen Landschaft. Carl Härle heiratete am 16. März 1916 Mathilde Schäfer, die ihm drei Töchter schenkte. Sie starb am 8. November 1928 im Alter von 43 Jahren. Beide waren aufgeschlossen für geistige und kulturelle Werte. Es verband sie das gemeinsame Interesse an Literatur, die Freude an der Kunst und eine ausgeprägte Liebe zur Natur.

Ausbildung und beruflicher Werdegang

Härle besuchte die einklassige Dorfschule, anschließend ein Gymnasium in Ulm. Nach der Reifeprüfung leistete er seinen Militärdienst bei der Kavallerie in Stuttgart. Von 1899—1901 absolvierte er in London eine Banklehre. Sein weiterer beruflicher Werdegang ist in der Neuen Deutschen Biographie wie folgt beschrieben:

„Seit 1901 studierte er in Leipzig und Tübingen Rechtswissenschaft, wurde 1905 in Tübingen promoviert und legte 1908 das Assessorexamen in Stuttgart ab. Nach etwa einjähriger Tätigkeit bei der Krefelder Stahl werke AG, mit deren Reorganisation ihn August Thyssen betraut hatte, wurde er 1909 in die Firma Thyssen & Go. nach Mülheim berufen, die damals noch Muttergesellschaft des alten Thyssen-Konzerns war, und mit Gesamtprokura aus gestattet. Hier fiel Härle u. a. die Aufgabe zu, Thyssen bei der Um- und Neugliederung des Konzerns sowie bei der Durchführung sozialer Maßnahmen zu beraten. Als 1911 die Maschinenfabrik als Thyssen & Go. AG verselbständigt wurde, trat Härle neben F. Roser in den Vorstand ein, ohne auf die Gesamtprokura für die Muttergesellschaft verzichten zu müssen. 1914/17 im Felde, wirkte er nach Kriegsende mit bei der Reorganisation des Konzerns. Der Ausgleich des Verlustes eines Viertels der Anlagen in Frankreich und Lothringen durch vor wiegend verbundwirtschaftliche Maßnahmen gilt mit Recht als eine originäre Leistung in der Geschichte der Eisenwirtschaft. Auf Härles Initiative hin wurde zur Abwendung sozialer Not die Stiftung Thyssen — Dank GmbH gegründet. Auf Grund seiner Fähigkeiten und Integrität berief ihn A. Thyssen zu seinem Testamentsvollstrecker (1926). Härle wurde in der Folge als Vermögensverwalter der Erben Josef Thyssen tätig und war in dieser Eigenschaft Alleinvorstand der Firma Thyssen & Go. AG, Mitglied des Grubenvorstandes der August-Thyssen-Hütte Gewerkschaft, Aufsichtsratsmitglied der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, der Vereinigten Stahlwerke und anderer Unternehmen.“

 

Ferner war Dr. Härle als Vertreter der Mülheimer Wirtschaft bis 1943 Vizepräsident der Industrie- und Handelskammer in Essen, deren Beirat er bis zu seinem Tode angehörte. Dr. Härle war maßgeblich daran beteiligt, daß im Thyssen-Konzern die ersten Wege der modernen Betriebswirtschaft auch in Deutschland begangen wurden. Man erzählt sich, daß er die erste Hollerith-Maschine für Deutschland bestellt hat.

Das berufliche Wirken Carl Härles ist eng verküpft mit dem Schicksal der Familie Thyssen, das hier nur kurz angedeutet werden kann. August Thyssen, der mit seinem Bruder Josef 1915 das Unternehmen aufgebaut hatte, starb 1926 auf Schloß Landsberg bei Kettwig im Alter von 84 Jahren. Er hinterließ drei Söhne.

Fritz Thyssen (1873—1951) übernahm nach dem Tode seines Vaters als Haupterbe die Leitung des Konzerns und wurde 1930 Inhaber der Stammfirma Thyssen & Go. AG. August Thyssen jun. wurde in späteren Jahren von seinem Vater unter Vormundschaft von Garl Härle gestellt.

Baron Dr. Heinrich Thyssen-Bornemisza (1875—1947) — durch die Heirat mit einer ungarischen Baronin in den Adelsstand erhoben — schied aus der Stammfirma aus und verlegte 1932 seinen Wohnsitz nach Lugano.

Die beiden Söhne von Josef Thyssen, Julius (1883—1946) und Hans (1890—1943), verblieben zunächst m führenden Positionen des Unternehmens. Beide erkrankten 1923 schwer und wurden im Laufe der Jahre aus gesundheitlichen Gründen geschäftsunfähig. Das Vermögen der beiden Familien wurde ab 1930 von ihrem Vetter Fritz unter Assistenz von Garl Härle verwaltet.

Bei Ausbruch des 2. Weltkrieges emigrierte Fritz Thyssen mit seiner Familie und unter Mitnahme eines beträchtlichen Vermögens ins Ausland. Fritz Thyssen und seine Frau Amelie wurden 1940 in Südfrankreich verhaftet. Die Thyssen & Go. AG kam unter Staatskontrolle, im Handelsregister des Amtsgerichtes Mülheim-Ruhr wurde sie am 21. September 1940 handelsrechtlich in „Rheinisch-Westfälische Beteihgungs AG“ umbenannt. Dr. Härle wurde seiner Stellung als General-Direktor der Thyssen & Co. enthoben. Es gab Hinweise, daß er bis zum Ende des Krieges von der Gestapo bespitzelt wurde. Das Vermögen Fritz Thyssens wurde beschlagnahmt, die Firmenanteile der Familien Julius und Hans Thyssen von Garl Härle als Alleinvorstand der Thyssenschen Handelsgesellschaft verwaltet.

Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung würdigte G. Härle anläßlich seines 70. Geburtstages am 29.8.1949:

„Begabt mit Erkenntniskraft für das Wesentliche, verfolgt Dr. Härle das einmal für richtig Erkannte mit vollem Einsatz. Er äußert seine Ansichten klar und deutlich. Diese Haltung und seine exponierte Stellung brachten manche Konflikte mit sich. So wurde er dreimal aus politischen Gründen verhaftet.“

 

Was es bedeutet, in einer leitenden Stellung Verantwortung zu tragen, sollte Carl Härle im Verlaufe des Ruhrkampfes erfahren. Am 8. Juli 1923 wurde das Werk von französischen Truppen mit Panzerwagen besetzt, Dr. Härle verhaftet und sechs Wochen im Werdener Zuchthaus festgehalten. Trotz seiner Vertrauensstellung bei August Thyssen konnte dieser es nicht übers Herz bringen, von seiner Sparsamkeit abzulassen. Der alte Thyssen ließ Härle mitteilen, daß er den Anwalt für seine Verteidigung nicht bezahlen könne. Er müsse sparen.

Es hatte auch für Härle verhängnisvolle Folgen, daß Fritz Thyssen 1939 Deutschland verließ. Anders als sein Vorgesetzter war Carl Härle von Anfang an ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Aus seiner Uberzeugung hat er — ungeachtet persönlicher Schwierigkeiten — nie einen Hehl gemacht. Den Nationalsozialisten war er schon seit seinem Einsatz für die Abtei Maria Laach im Jahre 1933 suspekt. Und so war es für die Geheime Staatspolizei ein willkommener Anlaß, Dr. Härle mit der Flucht Thyssens in Verbindung zu bringen. Ende Juli 1940 wurde er morgens von vier Gestapoleuten in Oberkassel überrascht. Nach stundenlangem Verhör wurde er im Auto mitgenommen und in seiner Mülheimer Wohnung drei Wochen unter Hausarrest gestellt. Es wurde nicht der geringste Hinweis gefunden, daß Garl Härle von dem Vorhaben Thyssens informiert, geschweige an den Transaktionen des Vermögens in irgendeiner Weise beteiligt war.

In einem Glückwunschschreiben anläßlich des 40jährigen Arbeitsjubiläums beim Thyssen-Konzern vom 1. 8. 1949 würdigte die Stadt Mülheim die Verdienste des Jubilars um das Unternehmen und die Stadt: „Mit Energie und Weitblick haben Sie Ihren Teil dazu beigetragen, den Thyssenschen Werken die Fundamente ihres Wachstums zu bauen.“ Auch über den engereen Wirkungskreis hinaus habe Härle sich den „Aufgaben des kommunalen Lebens bereitwilligst zur Verfügung gestellt,“ insbesondere nach 1945. Sein „Bemühen um die Pflege der kulturellen und sozialen Belange unserer Stadt“ werde ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte der Stadt sichern. Wegen seiner Verdienste hat die Stadt Mülheim/Ruhr nach Härles Tod eine Straße nach ihm benannt.

Soziales und kirchliches Engagement

Im Jahre 1933 geriet die Abtei Maria Laach in große finanzielle Bedrängnis. Fritz Thyssen, der zum Freundeskreis der Maria Laacher Benediktiner gehörte, stellte der Abtei Dr. Härle als Berater zur Verfügung. Seinem energischen Fingreifen war Frfolg beschieden. So schrieb am 18. Dezember 1933 Abt Ildefons Herwegen:

„Wenn ich heute, um Zentnerlast erleichtert, mit allem Vertrauen einem glücklichen Weihnachtsfeste entgegensehen darf, so verdanken meine Abtei und ich den Ausblick auf ein sorgenfreieres Jahr nächst Gott nur Ihnen und Ihrem nie ermüdenden Einsatz von Kraft, Zeit, Wissen, Können und Wohlwollen.“

 
Erst im folgenden Jahr konnte die Angelegenheit endgültig abgeschlossen werden, wie aus einem Schreiben des Abtes vom 20. Juni 1934 hervorgeht. Abt Dr. Ildefons Herwegen blieb bis zu seinem Tode am 2. September 1946 Carl Härle in Freundschaft verbunden. In einer Gedenkmesse in Maria Laach aus Anlaß des 35. Todestages von Garl Härle am 26. August 1985 erinnerte sich der damalige Prior von Maria Laach, Pater Fmanuel von Severus OSB: „Er war, das ist uns allen noch in Erinnerung, eine starke Persönlichkeit, deren Wesenszüge neben seinem fachlichen Wissen vor allem in seiner Redlichkeit, in seinem unbestechlichen Gerechtigkeitssinn, seinem Gedanken- und Ideenreichtum zum Ausdruck kamen.

„Auch unser Kloster ist ihm zu tiefstem Dank verpflichtet. Er hat in einer wirtschaftlichen Krise, in der die Existenz unseres Klosters bedroht war, den entscheidenden Rat gegeben.“

 
Der Prior aber würdigte auch die tiefe Frömmigkeit Carl Härles:

„Aber die Wurzel seiner Stärke lag in seinem Glauben. Er fühlte sich in allem, was er dachte, riet und entschied, Gott verantwortlich. Das gab ihm nicht nur Kraft, sondern weitete seinen Blick über die Bereiche seines Wirkens in der Wirtschaft hinaus. Er wußte, daß der Glaube nicht nur verkündigt werden darf, sondern bekannt und bezeugt werden muß.“

 

Die heutige Generation kann sich kaum vorstellen, was es bedeutete, während des nationalsozialistischen Regimes an einer Prozession teilzunehmen. Johannes Heinrichsbauer, Pfarrer an St. Marien in Mülheim, erinnert sich an die letzte Fronleichnamsprozession vor dem Krieg:

„Es fehlen wohl einige Männer. Es war ja die Zeit des verflossenen Regimes. Ein leises Raunen ging durch die Männerwelt: An vielen Straßenecken ständen Aufpasser, die die Namen der Prozessionsteilnehmer notierten. Ein stiller innerlicher Kampf setzt bei den Männern ein. Sollten sie allen Schmähungen, Unannehmlichkeiten, Verhören, Zurücksetzungen, materiellen und seelischen Schädigungen zum Trotz bei der Prozession bleiben und mitziehen, dem Eucharistischen Herrn ihren Glauben und ihre Treue bekennen wie bisher, oder sollen sie sich leise und unbemerkt von dannen schleichen?

Ehe aber nur einer geht, entsteht in der Schar der Männer eine sichtliche Bewegung. In dem Augenblick nämlich, als ein hochgewachsener Mann, fast alle um Kopflänge überragend, still und bescheiden in ihre Mitte tritt und sich unter die Prozessionsteilnehmer einreiht. Nun geht keiner weg. Durch die Anwesenheit dieses Mannes fühlen sich alle gestärkt und ermutigt. Dr. H(ärle) ist auch dabei, so pflanzt es sich von Mund zu Mund fort.

Dr. H(ärle) ist auch dabei. Alle kennen ihn. Er war einer der erfolgreichsten Mitarbeiter des alten August Thyssen und auch in seinem Alter noch unermüdlich tätig. In der Regel verbrachte er die Sonn- und Feiertage auf einem kleinen Landgut, denn er bedurfte dringend der Erholung. An diesem Fronleichnamstage aber spürte er offenbar den Ruf Gottes in sich, mitten unter den Männern sein Treu-Bekenntnis zum Herrn abzulegen. Es vollzog sich in ihm wohl das Wort des Herrn an Petrus: Ich habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht wanke, du aber geh hin und stärke deine Brüder.“(1)

 
Am Vorabend der bereits erwähnten Gedenkmesse hatte Dr. Dr. h. c. Wilhelm Schulte zur Hausen, der Schwiegersohn von Dr. Härle, Angehörige der Familien Thyssen und Härle sowie einige Ehrengäste zu einem Abendessen in seine Mülheimer Wohnung geladen. In seiner Begrüßungsansprache wies Hans Josef Thyssen — der älteste Sohn von Julius Thyssen — auf die sozialen Verdienste Carl Härles hin:

„Dr. Härle hat ein leuchtendes Beispiel persönlicher Hingabe an unsere christlichen Aufgaben gegeben. Sein Name ist in Mülheim mit mancher caritativen Einrichtung verknüpft. In der Zeit, da er Vorstand von Thyssen & Co. war, entstanden unter anderem die Stiftungen Franziskushaus (Altenheim, Anm. d. Verf.) und Raphaelhaus (Kinderheim, Anm. d. Verf.), deren Verwaltung auch ihm anvertraut waren.

Besonders aber ist das St. Marienhospital mit seiner Person und seinem Wirken engstens verbunden. Hier hat sich Herr Dr. Härle selbst ein Denkmal gesetzt. Nach dem Tode von Pastor Jakobs (14.12.1931), der dieses Krankenhaus der Marienpfarre eben erst großzügig ausgebaut hatte, drohten die Schulden die Existenz des Hauses zu gefährden. Damals nahm sich Carl Härle mit der ihm eigenen Energie der Sanierung an und führte innerhalb weniger Jahre die Verschuldung auf ein erträgliches Maß zurück. Auch übernahm er damals den geschäftsführenden Vorsitz im Kuratorium des Krankenhauses.

Über das St. Marienhospital brach eine noch viel größere Gefahr herein, als in der Bombennacht zum 23.06.1943 der gesamte Mittelbau des Hauses in Schutt und Asche fiel. Härle nahm tags darauf den Wiederaufbau in die Hand; das Krankenhaus konnte schon im Oktober 1943 wieder bezogen werden und seiner Aufgabe für die Bevölkerung gerecht werden.

Sofort nach Ende des Krieges wurde der endgültige Auf- und Ausbau in Angriff genommen. Wer sich dieser ärmsten, fast hoffnungslosen Zeit noch erinnert, weiß, welche Kraft, welches Geschick, welche Fähigkeiten und Ausdauer erforderlich waren, für ein solches Unternehmen gegen wertlose Reichsmark das benötigte Baumaterial zu beschaffen. Unter Einsatz all‘ seiner Autorität im Revier, all seiner Ausdauer und seiner vielfältigen Verbindungen (auch zu Oberkasseler Firmen, Anm. d. Verf.) gelang es Herrn Dr. Härle, noch zur Reichsmark-Zeit den Neubau an der Kaiserstraße unter Dach und Fach zu bringen und dort bereits neu eine Kinderstation einzurichten.

1948/49 war schließlich aus den Trümmern des alten Hauses ein modernes 500-Betten-Krankenhaus, versehen mit allen wesentlichen Fach-Abteilungen, entstanden. Am 19.11.1949 konnte Pastor Heinrichsbauer die neue Krankenhaus-Kapelle weihen. Härle hatte dazu den schönen gotischen dreiteiligen Marienaltar gestiftet.“

 

Kunstsammler und Stifter

In den 20er Jahren begann Carl Härle Kunstwerke zu sammeln, vor allem mittelalterliche Plastiken. Seine Skulpturensammlung gehörte zu den bedeutendsten in Deutschland. Mehrmals wurde die Sammlung in Ausstellungen der Öffentlichkeit gezeigt. Besondere Beachtung fand die Ausstellung im Essener Folkwang-Museum „Alte Skulpturen aus Privatbesitz“ vom 26. März bis 23. April 1933, die in der in- und ausländischen Presse Resonanz fand:

„Mit welch sicherem Blick und Verständnis hier Kostbarkeiten mittelalterlicher Kunst verschiedenen Stils zusammengetragen wurden, wird nicht nur den Wissenschaftler erfreuen. Eine solche Sammlung in der heutigen Zeit ist eine Seltenheit.“ („Essener Allgemeine Zeitung“ v. 27.3.1933).

„Diese Ausstellung, mit der dieser schöne, mehr als ein halbes Hundert zählende Besitz erstmalig vor die Öffentlichkeit hintritt, ist glücklicherweise einmal nicht der Vorbote von Verkaufsabsichten. Die Sammlung befindet sich außer Gefahr, ja, ein freundlich waltender Stern hat sie auch in den schweren letzten Jahren sich gleichmäßig und sicher entwickeln lassen. Der Besitzer hat es verstanden, sie auf eine respektable Stufe zu stellen. Alle, die sich mit der Plastik des Mittelalters beschäftigen, werden mit der Sammlung rechnen müssen und auf ihren weiteren Ausbau gespannt sein. („Die Weltkunst“ v. 30.4.1933, Nr. 18)

„Es ist ein Genuß, diese Ausstellung zu sehen, die Zeugnis ablegt von dem Geschmack und der großen Kenntnis des ungenannten Sammlers.“ (Übersetzung V. d. „Nieuwe Rotterdamsche Gourant“ vom 15.4.1933).

 
Wann immer Carl Härle Zeit und Gelegenheit hatte, besuchte er Museen, Kirchen und Ausstellungen und vertiefte sein Wissen durch intensives Studium der kunstgeschichtlichen Literatur. Er wurde nicht nur als Sammler, sondern auch als Kunstkenner bekannt. So gehörte er dem Beirat des Germanischen National-Museums in Nürnberg, dem Vorstand des Zentral-Dombau-Vereins in Köln und dem Kuratorium des Folkwang-Museums in Essen an. Er war Mitstifter des Forschungsinstitutes für Kunstgeschichte an der Universität Marburg.

„Unter den Sammlern alter Kunst steht Ihr Vater mit in erster Reihe, und allen Ereunden der Kunst ist es gerade an ihm gewiß geworden, wie auf diesem Gebiet Wissenschaft und Studium nicht ausreichen, sondern die Gabe des Sehens und der Bewahrung das erste und das letzte sind, woraus der eigentliche Segen kommt.“ (Aus dem Kondolenzbrief an die Familie Härle in Oberkassel von Prof. Heinrich Lützeler, dem Direktor des Kunsthistorischen Institutes Bonn V. 4. 9. 1950).

 
Aber Carl Härle war nicht nur Kunstkenner und Sammler, er konnte sich von seinen Sammelstücken auch wieder trennen, wie wir bereits bei der Stiftung eines Marienaltars für die Krankenhauskapelle des St. Marienhospitals in Mülheim sahen. Zur Ausstattung der Pfarrkirche von St. Mariae Geburt in Mülheim/Ruhr, die nach Plänen von Prof. Emil Fahrenkamp (1855-1966) in zehnmonatiger Bauzeit errichtet und am 10. März 1929 eingeweiht wurde, trug Härle mit mehreren Kostbarkeiten bei. Pastor Jakobs führt sie auf:

„Auf dem Marienaltar der neuen Pfarrkirche steht eine überaus schöne Statue der Gottesmutter. Ein Mitglied unserer Pfarre hat sie der Kirche gestiftet zum Andenken an eine liebe Verstorbene, der die Verehrung der himmlischen Mutter Glaubens- und Herzenssache war. Die Statue ist eine rheinische Arbeit aus der Zeit um 1500 und bildet unter den schönen Stücken unserer Kirche einen Höhepunkt.“(2)

 
Zu den kostbarsten Stücken seiner Sammlung gehörte ein romanisches Kreuz, das Dr. Härle ebenfalls der Kirche übergab:

„Nicht kostbar durch sein Material. Es ist aus einfachem Lindenholz und dazu ohne jegliche farbliche Aufmachung. Aber sein Stil bezeugt ein Alter von siebenhundert Jahren, und darin besteht sein Wert. Es hat anfallende Ähnlichkeit mit dem Kreuz, das in der Abteikirche in Werden aufbewahrt wird. Auch das Werdener Kreuz stammt aus der Zeit um 1200. Unser altes und sehr altes Altarkreuz ist nach Mülheim gekommen aus seiner Heimat am Bodensee und aus zweiter Hand in den Besitz eines Pfarrangehörigen übergegangen. Als der Pastor es gelegentlich eines Krankenbesuches sah, sagte er sich: Von dem Kreuze müssen wir für unsere Kirche eine Kopie haben. Und als er mit diesem Wunsche herausrückte, stiftete das betreffende Ehepaar das wertvolle Kunstwerk im Original als Altarkreuz. So wird die Gemeinde in der neuen Kirche einen Kunstgegenstand haben, wie er sich ähnlich im Industriegebiet vielleicht kaum ein drittes Mal findet.“(3)

 
Bei dem schweren Luftangriff auf Mülheim am 22./23. Juni 1943 wurde auch die Marienkirche getroffen. Die gesamte Innenausstattung wurde zerstört, das Altarkreuz und die Marienstatue vernichtet. Nichts blieb übrig von der überlebensgroßen Kreuzigungsgruppe an der Chorwand, die Carl Härle zur Erinnerung an seine Eltern der Kirche geschenkt hatte. Erhalten blieb die lebensgroße Bronzeplastik des auferstandenen Christus im Portikus. Das Original hatte er von dem Bildhauer Carl Burger aus Mayen für die Grabstätte seiner Frau anfertigen lassen, den Zweitguß 1930 der Kirche gestiftet.

Carl Burger (1875-1950), Bronzeplastik des auferstandenen Christus (1930), St. Mariä Geburt, Mülheim an der Ruhr

Sein Angebot, die Kunstwerke zu Beginn des zweiten Weltkrieges auszulagern und in Sicherheit zu bringen, wurde leider nicht angenommen.

Er selbst hat unmittelbar nach Ausbruch des Krieges seine Kunstwerke in der näheren Umgebung von Mülheim (Schloß Landsberg bei Kettwig) ausgelagert. Nach den schweren Angriffen auf das Ruhrgebiet 1943 wurde die Sammlung auf Anraten von Dechant Johannes Hinsenkamp, Pfarrer an St. Martin in Bonn, unter der Krypta der Bonner Münsterkirche in Sicherheit gebracht und hat dort den Krieg unbeschadet überstanden.

Weihnachten 1948 wurde der erste Gottesdienst nach der Zerstörung in der wiederaufgebauten Marienkirche gefeiert. Niemand in der Gemeinde ahnte die Herkunft des neuen Altarkreuzes. „Das Altarkreuz ist eine alte Kostbarkeit. Es entstand vermutlich um 1100, gravierte und vergoldete Bronze mit einem vollplastischen Korpus sind die Materiahen.“ Und auf dem Marienaltar stand wieder eine Madonna, „eine sehr schöne Barockplastik aus dem österreichischen Raum.“ Es ist bezeichnend für Carl Härle, daß er als Stifter ungenannt bleiben wollte. Seine menschliche Größe lag u. a. in seiner außerordentlichen Bescheidenheit.(4)

Aufenthalte in Oberkassel

Was verbindet Dr. jur. Carl Härle, Bürger der Stadt Mülheim/Ruhr, mit Oberkassel? 1921 erwarb er von der Erbengemeinschaft Rennen das Anwesen an der Büchelstraße 50. Damals standen im Bonner Raum mehrere Häuser mit Gärten zum Verkauf. Die Entscheidung fiel zugunsten von Oberkassel. Ausschlaggebend war nicht das Haus, sondern die reizvolle Hanglage, der Park mit altem Baumbestand seltener Gehölze, eine große Terrasse mit Aussicht auf das Siebengebirge, auf der anderen Straßenseite das Gartenland mit vielen Obstbäumen und Beerensträuchern, der große Teich — das Maar — inmitten eines Waldstückes, das fast bis an die Steinbrüche reichte und vom höchsten Punkt aus eine herrliche Aussicht über das ganze Rheintal bot. Park und Gartenland waren verwildert, der Waldpark weitgehend abgeholzt, das Haus sehr in Unstand. Und doch erkannte er, daß aus dem Grundstück etwas zu machen sei.

Nach Plänen des Gartenarchitekten Carl Rohde aus Bad Godesberg wurde der Park neu gestaltet und aufgeforstet, das Gartenland in eine Erwerbsgärtnerei umgewandelt, ein großes Treibhaus und mehrere Frühbeete gebaut. Vom Überlauf des Maares wurde eine Wasserleitung in das Gewächshaus und zu verschiedenen Bassins in der Gärtnerei gelegt. Bei den notwendigen Planierungsarbeiten gab es eine Überraschung: 1925 wurde bei Bodenabtragungen ein fränkisches Reihengräberfeld entdeckt. Im gleichen Jahr wurde der Gärtner Michael Wirtz eingestellt. Er hat — wie auch seine Nachfolger — mit jeweils nur einem Gehilfen eine für die heutige Zeit unvorstellbare Leistung erbracht.

Carl Härle bestellte das Saat- und Pflanzgut für die Gärtnerei und den Park. Sein gärtnerisches Fachwissen erwarb er ausschließlich aus Büchern. Seine besondere Liebe galt den Bäumen, Blütengehölzen, Stauden und Steingartengewächsen. Zu den abgegriffensten und mit Randnotizen versehenen Werken seiner umfangreichen Bibliothek gehören die Bücher von Ernst Graf Silva Tarouca und Karl Foerster über Parkanlagen und Freilandstauden. Für ihn war der Park ein Refugium der Stille, eine Kraftquelle für den Alltag — niemals ein Prestigeobjekt. Die schöpferische Tätigkeit als Gartengestalter und die Arbeit im Garten erfüllten ihn mit tiefer, innerer Freude. Noch immer trägt der Park Spuren seiner Handschrift: weißblühende Stauden und Gehölze vor dem dunklen Hintergrund der Koniferen.

Das Haus, das der frühere Eisenbahnpräsident Franz Carl Rennen um etwa 1870 errichtet hat, war in den Folgejahren wegen Bergschäden mehrmals umgebaut und mit anderen Gebäuden unterschiedlicher Entstehungszeit und Zweckbestimmung zu einem Baukörper zusammengefügt worden. Die Villa Rennen wurde 1927/28 nach Plänen des Frankfurter Architekten Roegele im Bauhausstil umgebaut. Wer aber nur die eher abweisende Straßenfront kennt, ahnt nichts von der Schönheit der Südseite mit der Terrasse vor der großartigen Baumkulisse des Parks.

Vom Frühjahr bis in den Herbst hinein fuhr die Familie an jedem Wochenende nach Oberkassel. Zur Erntezeit wurde vor der Heimfahrt das geräumige Auto mit Gemüse, Obst und Blumen beladen. Auch im Sommer gab es nur ein Ferienziel: Oberkassel. Das große Haus bot genügend Platz für eingeladene Verwandte mit Kindern oder Freundinnen der Töchter. Noch heute schwärmen manche von dem Ferienparadies ihrer Kindertage, wo sie ungestört spielen und in Obst schwelgen durften. Und alle erinnern sich an die verschwenderische Blütenpracht der einjährigen Sommerblumen auf der Terrasse. Zusätzlichen Anreiz boten das Oberkasseler Strandbad, Wanderungen nach Heisterbach oder ins Siebengebirge und als Höhepunkt der Ferienwochen eine Dampferfahrt mit dem Vater nach Rüdesheim. Manches Familienfest wurde hier an der Büchelstraße gefeiert. Unvergeßliche Abende, wenn beim Tanz der Glühwürmchen Grillen zirpen, Fledermäuse über die Köpfe oftmals erschreckter Gäste flattern, unüberhörbar das klagende Rufen des Käuzchens.

Die Sommerferien 1939 gingen zu Ende. Am 26. August vollendete Garl Härle sein 60. Lebensjahr. Die Geburtstagsfeier im engsten Familienkreis war überschattet von den drohenden Ereignissen. Wenige Tage später brach der zweite Weltkrieg aus. Er beschloß, seine Familie in Oberkassel zu lassen. Seine Befürchtungen, das Ruhrgebiet sei bei Luftangriffen besonders gefährdet, sollten sich leider bewahrheiten. Zu diesem Zeitpunkt ahnte niemand, daß das Haus in Oberkassel ein Zuhause für immer werden sollte.

Ferienzeit in Oberkassel war etwas anderes, als dort ständig zu leben. Und für Dr. Härle, der seine Tätigkeit in Mülheim ausübte, bedeutete das, nur das Wochenende in Oberkassel bei seiner Familie verbringen zu können. Einschneidende Veränderungen gab es auch in der Gärtnerei. Im Hinblick auf die zu erwartende schwierige Ernährungslage wurde das Gartenland noch intensiver genutzt als bisher. Der einzige Gehilfe Theodor Neunkirchen wurde 1940 eingezogen und fiel 1943 im Kessel von Stalingrad. Alle Haushaltsmitglieder wurden zur Gartenarbeit herangezogen. Ein Wochenplan mit Aufgaben für jeden einzelnen wurde erstellt, wie es Dr. Härle all die Jahre mit dem Gärtner gehandhabt hatte. Die eigentliche Notzeit begann erst nach Kriegsende. Kohle wurde Mangelware, für Grundnahrungsmittel mußte man stundenlang anstehen. Eine Warteschlange bildete sich auch im Frühjahr vor der Gärtnerei Härle: Tausende von Gemüsepflanzen wurden in dem großen Treibhaus ausgesät, pikiert, in Frühbeete versetzt und im Mai an Oberkasseler Gartenbesitzer verschenkt. Und wenn Härles mit Briketts beliefert wurden, erhielt jeder Haushalt der Büchelstraße eine Zuteilung von drei Zentnern. Zusätzliche Kokszuteilungen erhielten das katholische Krankenhaus in Oberkassel und der evangelische Probsthof in Dollendorf.

Das Haus in Mülheim wurde 1945 von den Amerikanern beschlagnahmt und erst Jahre nach seinem Tod von der britischen Besatzung an die Erben zurückgegeben. Fünf Jahre bewohnte Härle ein Zimmer im Mülheimer Krankenhaus.

Bundeskanzler Adenauer mit Dr. Härle

Bergknappen geben Carl Härle das letzte Geleit (31. 8. 1950)

Dr. Carl Härle starb am 26. August 1950, am Abend des Tages, an dem er sein 71. Lebensjahr vollendet hatte. An der Beisetzung nahm auch eine Abordnung aus Oberkassel teil.

Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer schrieb:

„An dem Hinscheiden von Herrn Dr. Härle nehme ich aufrichtig Anteil. Ich habe ihn wegen seines geraden Charakters und seiner Klugheit sehr geschätzt.“

 
Heute leben nur noch wenige Oberkasseler, die ihn persönlich gekannt haben. Der Park Härle jedoch prägt seit Jahrzehnten — auch als grüne Lunge — das Ortsbild von Oberkassel. Diesen Park zu erhalten ist ein Vermächtnis.

Stiftung Arboretum Park Härle
www.arboretum-haerle.de

Anmerkungen

  1. Johannes Heinrichsbauer, Buch der Besinnung, Köln, 1954.
  2. Pastor Jakobs, Das Haus Gottes, Essen, 1939.
  3. ebenda.
  4. Gustav Ommer, St. Mariae Geburt, Kevelaer, 1988.